Charlotte hatte nur eine kurze Zeit gemeinsam mit ihren Eltern

Charlotte hatte nur eine kurze Zeit
gemeinsam mit ihren Eltern

Zuhören, Schweigen, Tränen teilen und trocknen – Seelsorge auf der Kinderintensivstation

Ich lerne Charlotte näher kennen, da wiegt sie schon 420 Gramm. Bei meinen Besuchen auf der Kinderintensivpflegestation (KIPS) des Evangelischen Krankenhauses habe ich sie bereits wahrgenommen. Nicht sie als Person, sondern den verhüllten Inkubator, die Schläuche, und Monitore, die vorerst Charlottes Überleben garantieren. Heute aber sehe ich den kleinen Menschen zum ersten Mal. Ihre Eltern stehen neben dem Brutkasten. Mit ihnen sind Gefühle im Raum – Angst, Sorge, Ohnmacht, Hoffnung, Stolz und Schuldgefühle.
Ich stelle mich vor. Mehr als ein kurzes Gespräch kommt heute nicht zustande. Ja, Charlotte sei vier Monate zu früh, in der 24. Schwangerschaftswoche gekommen. Vorbereitet sei keiner gewesen und noch sei das alles gar nicht zu verstehen. Doch, die Ärzte und Kinderkrankenschwestern seien optimistisch. Selten habe ein Kind so darum gekämpft, auf der Welt zu bleiben, wie Charlotte es tue. Das sei schon etwas Besonderes, berichtet mir auch Schwester Christine, die die Station leitet. In 25 Jahren Diensttätigkeit auf der KIPS habe sie schon viel erlebt – Charlotte aber habe einen besonderen Lebensmut. Man müsse auch positiv denken.
Ein wenig Routine kehrt ein. Charlottes Vater geht wieder jeden Tag zur Arbeit.
Die Sorgen kommen zurück, als sich zeigt, wie unreif Charlottes Lungen wirklich sind. Sie tut sich schwer, alleine zu atmen. Sie beginnt an Gewicht zuzunehmen, zaghaft zu strampeln, ab und an einen Blick zu riskieren, zu lächeln und ihre Stirn zu runzeln. Nur atmen – atmen kann sie nicht.
Wir sprechen viel über Charlotte – ihre Eltern und ich. Ich erlebe, wie schwer es ihnen fällt, sich vorbehaltlos über dieses Kind zu freuen. Ich verstehe, wie sich Hoffnung und Zweifel, Vertrauen und Angst ständig abwechseln. Das zerrt – an den Kräften, an der Beziehung, am Glauben. In ihren Fragen und Überlegungen dominiert der Konjunktiv: Hätte, würde, könnte, sollte man nicht vielleicht doch …?!

Ich bleibe in der Gegenwart – bei dem was ich erlebe: Charlottes fester Griff, ihr erstes Lächeln, ihr Hunger und die Liebe ihrer Eltern, die so spürbar ist, trotz aller Angst und Sorge. Über vier Monate hinweg sprechen wir. Wir lachen und sind nachdenklich. Wir schweigen gemeinsam und einmal spreche ich auch einen Segen.

Eines Morgens bekomme ich einen Anruf: Charlotte gehe es sehr schlecht. Über Nacht haben sich die Werte stark verschlechtert. Als ich komme, stehen wir um Charlottes Wärmebettchen, und ich spreche aus, was alle denken: Nottaufe. Am Nachmittag dann feiern wir Charlottes Taufe. Ihre Familie ist da und ihre Paten, zwei Schwestern und ein Arzt. Es ist eine feierliche Stimmung, die sich im Intensivzimmer breit macht und gleichzeitig voller Trauer und Schwermut.
Ich frage mich, wie ich diese Feierlichkeit gut beenden kann, als ein Monitor piept. Die Sauerstoffsättigung sinkt. Am nächsten Tag stirbt Charlotte. Ihre Eltern konnten sie noch lange im Arm halten.

Wochen später bekomme ich einen Brief. Darin ist eine Dankeskarte. „Danke“, schreiben Charlottes Eltern, „Danke, für die liebevollen und tröstenden Worte, fürs Zuhören und gemeinsame Schweigen, fürs Tränen teilen und trocknen, fürs Ablenken und Unterstützen in unserer schwersten Zeit. Danke auch Dir, liebe Charlotte, für unsere gemeinsame Zeit.“ Nun bin ich es, die sich gesegnet fühlt.